Gruppe: Benutzer Rang:
Beiträge: 2 Mitglied seit: 15.10.2010 IP-Adresse: gespeichert
| Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Ich habe es auch gewusst. Ich wollte es nur nicht wahr haben. Und ich wollte ihn retten.
Wir haben uns im Chat kennen gelernt. Mein erster Freund. Als ich ihn das erste Mal daheim besuchte, saß er am PC und klickte herum, zeigte mir ein paar Dinge, ich weiß nicht mehr was. "Er ist wohl sehr nervös und sitzt deshalb am PC und nicht neben mir auf dem Bett", dachte ich. Er saß sehr oft am Computer. Und er redete oft von ihm. Manchmal gingen wir essen oder etwas trinken. Er machte gerade seinen Zivildienst. Ab und zu schwänzte er, ließ sich krank schreiben. Nicht wegen dem Computer. Wegen mir. Ich wollte das nicht. Aber er wollte Zeit mit mir verbringen. Ich sollte Zeit mit ihm verbringen. Nicht mit meinen Freunden, nicht im Sportverein, nicht bei meinem Nebenjob. Oft hatten wir Streit. An einem dieser Tage kaufte er sich World of Warcraft.
Nach seinem Zivildienst tat er nichts. Er sei auf Jobsuche, sagte er. Keine einzige ernsthafte Bewerbung. Er hatte einen schlechten Realschulabschluss. Ich machte Abitur. Er spielte. Inzwischen hatte er Hausverbot bei mir daheim. Ich besuchte ihn mehrmals die Woche. Er holte mich nicht mehr vom Bahnhof ab. Er brachte mich abends um 10 nicht mehr zum Bus. Er spielte. Er konnte schön zeichnen. In einer Zeitung fand ich die Anzeige einer privaten Akademie. Mediengestalter. Er bewarb sich. Wurde genommen. Und ich bewarb mich für ein Studium in seiner Nähe. Wir zogen zusammen. War günstiger. Und ich wollte, dass er die Schule schafft. Fachhochschulreife. Danach Studium.
Das erste, worum er sich kümmerte, war der Internetanschluss. Als ich nach 1,5 Jahren auf Anraten der Polizei eilig meinen Koffer packte und die Wohnung fluchtartig verließ, hing im Wohnzimmer immer noch keine Lampe. Nur eine Nachttischleuchte stand auf dem Fensterbrett.
Sein Computer war das erste und das letzte, was er am Tag berührte. Abends deckte er mich manchmal zu, bevor er wieder an den Computer verschwand. Was nicht an Miete und Schulgeld von seinem Bafög abging, steckte er in den PC. Kein Geld mehr für Kino, um was trinken zu gehen, mal auf ne Party. Darauf hatte er eh keine Lust... Alleine weggehen durfte ich nicht. Ich bat ihn, das Spielen einzuschränken. Er sagte, Computerspielen sei sein Hobby. Er war Gildenleiter. Endlich bekam er den Respekt, den er verdiente. Er wünschte sich eine Freundin, die mit ihm spielt. Also spielten wir zusammen World of Warcraft. Jeder an seinem Schreibtisch. An Samstagen setzte er keine Raids an. Um einen Abend am Wochenende für die Freundin zu haben. "Real life geht vor", hat er seinen Gildenmitgliedern immer gesagt. Wir schauten Filme. Oder er spielte. Also spielte ich auch. Nachts träumte ich von Quests und DKP. Und bald auch von diesem Jungen...
Ich hatte ihn im Chat kennen gelernt. Dort verbrachte ich bald wieder mehr Zeit. Kein WoW mehr. Egal, hauptsache ich war beschäftigt, während mein Freund spielte. Zuerst sprachen wir nur ab und zu. Bald jeden Nachmittag, bis nachts. Nach einem Jahr tauschten wir Bilder. Später gingen wir zusammen essen. Heimlich. Er wohnte in der Nähe meiner Eltern. Ich besuchte sie immer öfter. Beim zweiten Treffen gingen Wir zusammen an eine Party. Mein Freund wusste davon. Ich trank das erste Mal Alkohol. Als wir in seinem Bett nebeneinander einschliefen, war ich nicht mehr betrunken. Als wir uns kurz danach küssten, auch nicht. Ich fuhr nach Hause und sagte nichts. Mein Freund hatte in WoW ein Mädchen kennen gelernt. Wenn ich nachts aufwachte, hörte ich ihn im wohnzimmer mit ihr telefonieren. Immer öfter schwänzte er die Schule, weil er morgens zu müde war. Ich machte Schluss. Zum dritten oder vierten Mal. Ausziehen ging nicht, mitten im Semester. Und er ritzte sich wieder. Eines Abends gestand ich die "Affäre". Er weinte. Er schlug ein Loch in die Tür, schloss sich mit dem Messer ins Bad ein, ich kam hinein und riss es ihm aus der Hand. Er sperrte mich im Schlafzimmer ein und wollte sich umbringen. Ich schrie und schrie und versprach, bei ihm zu bleiben, alles zu tun, was er möchte. Er öffnete die Tür. Der Seelsorgedienst riet mir, beim nächsten Mal den Notruf zu wählen. Ich sah ihn das Messer gegen sich richten. Die Polizei und der Rettungsdienst kamen. Er floh über den Balkon. Und ich packte die Koffer. Fuhr zu meinen Eltern. Und blieb bei diesem anderen Jungen. Ein paarmal betrat ich noch die Wohnung. Einmal war er da. Er bat mich, nicht zu gehen. Er schrieb Abschiedsbriefe und mischte sich einen Gifcoctail. Ich packte Umzugskartons. Er versprach, in Therapie zu gehen, wenn ich bleibe. Alleine schaffe er es nicht. Auch die Schule nicht. Er würde aufhören mit WoW. Das hatte er mir schon mehrmals versprochen... Ich ging.
Zweieinhalb Jahre sind vergangen. Mein Exfreund lebt immer noch. Und er spielt immer noch World of Warcraft. Er hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Seine Fachhochschulreifeprüfung. Er studiert. Manchmal schreibt er mir kurze Nachrichten. Alle paar Monate. Immmer seltener. Ich ignoriere sie. Er muss sich selbst retten.
WoW war nicht die Ursache - es war ein Symptom.
Nächste Woche wird er wahrscheinlich zu meiner Abschlussprüfung erscheinen. Ob ich will oder nicht. Ich habe Angst, ihn wiederzusehen.
|
Gruppe: Benutzer Rang:
Beiträge: 2 Mitglied seit: 15.10.2010 IP-Adresse: gespeichert
| Hallo Izumi,
vielleicht hast du mich missverstanden.
Warum sollte ich ihn das fragen? Er hat einiges erreicht, obwohl oder gerade weil ich ihn verlassen habe. Er wollte das "bequeme" Leben mit mir immer behalten, nach der Trennung musste er umdenken. Er hat immer behauptet, dass er es alleine nicht schafft, aber er hat es geschafft.
Vielleicht macht das einigen Angehörigen den Mut, ihren Partner zu verlassen, wenn er nicht bereit ist, gegen seinen problematischen Spielekonsum anzugehen... Dieser Schritt fällt einem ja immer sehr schwer. Ich habe zu lange gewartet...
Aber ich vertrete eben auch die Ansicht, dass diese Sucht nicht das primäre Problem ist. Mein Ex war sehr depressiv, ist es wahrscheinlich noch immer. Und wir haben auch einfach nicht zusammengepasst, hatten zu unterschiedliche Ansichten und zu wenige gemeinsame Interessen... Auch er war unglücklich in der Beziehung, deswegen hat er so viel Zeit am PC verbracht.
Ich habe zu lange gewartet. Heute erkenne ich an mir viele seiner Eigenheiten, die mich damals gestört haben, wieder. Er hat mich zu jemandem gemacht - nein - ich habe mich ihm zuliebe zu jemandem verändert, der ich nicht sein möchte.
|