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Die erfolglose Flucht in eine virtuelle Welt |
barefoott | ||
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Gruppe: Benutzer Rang: Beiträge: 2 Mitglied seit: 20.03.2008 IP-Adresse: gespeichert | Ich hatte zehn Monate meines Lebens für World of Warcraft aufgegeben und möchte euch darüber berichten wie es dazu kam, was die Konsequenzen waren und wie ich mein Leben wieder in den Griff bekommen habe. In meiner Geschichte habe ich bewusst versucht, reales Leben und virtuelles Leben parallel zu beschreiben - vielleicht hilft es dem ein anderen dabei, besser abschätzen zu können wo er sich gerade befindet und wie viel schlimmer es noch kommen kann. Den Anfang machte ich als meine Freundin nach 8 Jahren Beziehung mit einem Arbeitskollegen durchbrannte. Ich litt sehr unter der Trennung, konnte mich im Beruf kaum konzentrieren, war damals aber am richtigen Weg wie ich heute rückblickend denke. Ich hatte viel Sport betrieben, ging oft mit Freunden weg und verbrachte viel Zeit mit meiner Familie. Trotz der Ablenkung gab es Tage an denen ich völlig in meinem Kummer versank. An einem dieser Tage schleppte ich mich in ein nahgelegenes Einkaufszentrum. Ein großes World of Warcraft Poster zierte die Auslage eines Elektronikkonzerns. Ich hatte von diesem Spiel gehört und dachte ich könnte ja zur Ablenkung ein wenig Zeit vor dem Computer verbringen. Seit meiner Kindheit hatte ich keine Computerspiele mehr angerührt, da wäre ein Rollenspiel ja was ganz nettes. Schon war die Box gekauft und nach einer mehrstündigen Installation auch lauffähig. Das Spiel war anfangs langweilig und schwierig. Ich hatte Probleme mit der Bedienung, war völlig überfordert mit den vielen Quests (**Quests sind Aufgaben im Spiel**). Nach wenigen Minuten loggte ich mich wieder aus um tags darauf darin wieder Ablenkung zu suchen. So ging das einige Tage und meine Spielfigur (ein Priester) war Level 15. Ich entdeckte immer mehr Aufgaben und wurde in Instanzen eingeladen (** Instanzen sind schwierigere Spielbereiche die nicht alleine bewältigt werden können sondern die Organisation in Gruppen zwischen 5 und 40 Spielern erfordern **). Langsam wurde die Karte der entdeckten Gebiete immer umfangreicher - es kamen mehr und mehr Flugpunkte dazu (** Ein Flugpunkt is eine Stelle an der man in Städte und andere Zonen reisen kann**). Ich lernte Mitspieler kennen und wir begannen uns fixe Spielzeiten festzulegen. Nach vier Wochen - mein Priester war inzwischen Level 40 - wollte ich auch die anderen Klassen kennen lernen und startete mit einem Schurken. Wieder auf Level 1 war die Sache diesmal wesentlich einfacher und es dauerte nur ein paar Stunden ehe ich auf Level 15 war. Meine tägliche Spieltzeit erhöhte sich damit ich den Schurken möglichst bald auf einem höheren Level hatte. Langsam begann das Spiel sich negativ auf meine Leistung im Job auszuwirken. Erste Beschwerden über Arbeitszeit und Qualität gingen ein. Der Liebeskummer war immer noch da. Statt tagsüber - wo World of Warcraft und mein Job für Ablenkung sorgten - verfolgte mich alles im Schlaf, während der Fahrt ins Büro, bei Besuchen bei meinen Eltern, beim Ausgehen. Doch mehr und mehr wurden meine Gedanken auch außerhalb meiner Spielzeit von diesem Spiel bestimmt. Im Büro durchsuchte ich Foren, plante den Spieleabend. Mein Schurke war auf Level 60 angelangt und ich spielte mittlerweile von 16 Uhr bis 03 Uhr morgens. Seltsamerweise gab es genügend andere Spieler, die die gleichen Spielzeiten hatten und so fanden sich mehr und mehr Freunde mit denen bis in den Morgen gezockt wurde. Besorgniserregend fand ich das in keinster Weise - ich dachte, wenn ich auf Maximalstufe angekommen bin spiele ich halt wieder etwas weniger. Mein Beruf wurde mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Da ich damals selbständig tätig war verstummten die Beschwerden bald nachdem keinen neuen Aufträge da waren. Ich konnte auch tagsüber Warcraft spielen. Ein neuer Priester und ein Hexer wurden erstellt. Der neue Priester war schnell auf Level 40. Ich spielte dann beide Priester parallel auf zwei Accounts und zwei PCs um noch schneller höhere Levels zu erreichen. Das war sehr anstrengend und durch die vielen eintönigen Bewegungen machten sich auch die ersten körperlichen Beschwerden bemerkbar. Sport machte ich nicht mehr, ausgehen wurde gestrichen. Ich aß kaum noch, verlor mangels Bewegung aber auch kein Gewicht. Aus der anfänglichen Ablenkung war eine Hauptbeschäftigung geworden. Ich spielte mittlerweile 6 Monate. Meine Post holte ich nur noch alle paar Wochen nach oben. Ich kochte nicht mehr sondern bestellte nur noch. Der Müll sammelte sich in meiner Wohnung. Ein fahler Geruch breitete sich in meiner Wohnung aus. Anstatt aufzuräumen empfing ich keine Besuche mehr. An manchen Tagen setzte ich mich nach 15-20 Stunden non-stop Spiel kurz auf die Couch und wachte 6 Stunden später mit Nacken- und Rückenschmerzen wieder auf um wieder an den PC zu gehen - wo die ganze Zeit über der Anmeldeschirm gelaufen war und die Startmusik spielte. Die Wäsche wurde nur noch alle vier Wochen gewaschen - dann liefen eben alle 5 Maschinen in der Waschküche gleichzeitig. Das sparte Zeit die im Spiel genutzt werden konnte. Meine beiden Priester waren auf Maximalstufe 70 angelangt, mein Schurke auf 61 und ein Jäger, der auch das Licht der Spielewelt erblickte auf Level 60. Obwohl das Konto noch gut gedeckt war war ich drei Monatsmieten im Rückstand. Für eine Anmeldung im ELBA hatte ich offenbar keine Zeit. Erst hier erkannte ich was diese Spiel aus meinem Leben gemacht hatte. Ich fuhr den PC herunter, öffnete ein Fenster und starrte ein paar Minuten aus dem Fenster. Der Liebeskummer kam wieder hoch. Ich sah mich in meiner Wohnung um, die mittlerweile zu einem ekelerregenden Hindernisparcour geworden war. Staub klebte sogar an den Fenstern. Mir wurde klar, dass das ein Ende haben musste. Meine Post kurz überfolgen sah ich, dass zwei meiner Konten bereits rot waren. Aufhören stand dennoch nicht zur Debatte, ich müsste die Spielzeit wieder in den Griff bekommen. Ein paar Tage später waren die Vorsätze vergessen. Ich wurde in eine Raid Guilde aufgenommen (große Spielerveinigung für Endgame-Spielinhalte). Die Spieltzeit erhöhte sich sogar. Nach 10 Monaten hatte ich beide Priester mit epischen Rüstungen, Waffen und Schmuck ausgestattet. Ein Priester hatte ehrfürchtigen Ruf mit 13 Fraktionen. Der Jäger war ein Level 60 Twink (Spielcharacter unterhalb der Maximalstufe mit bestmöglichen Ausrüstungsgegenständen für sein Level) geworden und ebenfalls epic - was zahllose Stunden in Spieler-gegen-Spieler Schlachtfeldern erforderte. Der Vermieter hatte seine Forderungen an eine Kanzlei abgetreten. In meiner Wohnung lag eine Tasche voll mit ungeöffneter Post aus den letzten beiden Monaten. Ich hatte Rückenprobleme, Schmerzen in der Maushand und jeder kleine Ausflug ins Freie hatte kleinere Kreislaufprobleme zur Folge - mit gerade mal 33 Jahren. In dieser Phase war ich auch psychisch am Ende. Ich heulte oft - manchmal völlig grundlos. Ich musste das ändern. Es gelang mir mich für einen Ausflug zu meinen Eltern aufzuraffen. In meinem Auto lagen duzende unbezahlte Strafzettel herum. Um Zeit zu sparen hatte ich das Auto immer wieder in der Kurzparkzone direkt vor der Wohnung abgestellt. Es kümmerte mich nicht. Den Laptop hatte ich mitgenommen - man könnte ja über UMTS zumindest ein paar Primals (Elementarteile die für Berufe im Spiel benötigt werden) farmen. Ich hatte ein langes Gespräch mit meiner Mutter geführt die sich offenbar große Sorgen um mich machte. Von meiner Sucht hatte ich nicht erzählt. Es vergingen Stunden ohne Spiel. Ich wurde müde, ging aber dennoch ein paar Minuten im Freien spazieren. Es war erstaunlich, wie ruhig die Nacht war. Ich hatte seit Monaten keinen Sternenhimmel mehr gesehen. Die Erinnerungen an die Beziehung machten sich wieder breit. Ich farmte an diesem Abend keine Primals sondern schlief stattdessen ganze 12 Stunden am Stück - was für damalige Verhältnis unglaublich war. Zwei Tage verbrachte ich bei meinen Eltern - spielfrei. Als ich wieder in meiner Wohnung ankam wurde erst mal sauber gemacht. Ich dachte ehe ich wieder spiele räume ich lieber mal auf. Es dauerte Stunden wieder Ordnung herzustellen. Ich war müde und ein weiterer spielfreier Tag ging zu Ende. Am nächsten Tag ging ich raus und holte meine Post. Ich war geschockt von all den Mahnungen und hinterlegten Briefen. Alle Konten waren rot. Wie sollte ich das alles bezahlen? Warum hatte ich so viel Zeit im Spiel verbracht? Mittlerweile ist ein Monat vergangen. Ich arbeite wieder und verhandle im Moment mit der Bank um eine Finanzierung zu bekommen. Ich bin zuversichtlich dass das klappen wird. Meine Wohnung ist immer noch sauber und ich koche auch ab und zu. Es ist schön am Morgen aufzuwachen und sich Zeit für ein Frühstück zu nehmen. Die Arbeit macht Spaß - endlich kann ich wieder lachen. Ich habe meine Spielcharactere nicht gelöscht - alle sind immer noch epic und jederzeit spielbar aber das werden sie wohl nur solange bleiben bis die Abos auslaufen. Das Spiel war für mich ein Mittel zur Selbstzerstörung. Und beinahe wäre mir das gelungen. Erst das Wiederentdecken der realen Welt erlaubte mir Abstand vom Spiel zu erlangen. Schlimm ist, dass der Liebeskummer nun mit voller Härte zuschlägt - so als wäre alles gestern gewesen. Doch da muss ich wohl durch. Ich werde wieder ins Fittnessstudio gehen, meine Familie öfter besuchen und ab und an auch einfach nur im Park spazieren gehen. Im Moment erlebe ich die Welt viel bewusster als andere. Ich genieße Dinge die für andere selbstverständlich sind. Zusammenfassend möchte ich davor warnen, mit diesem Spiel zu versuchen, sich von Problemen abzulenken. Ich denke es gibt viele Leute, die World of Warcraft als Freizeitbeschäftigung spielen können - die auch Spaß dabei haben, es gibt aber auch solche, die die Herrschaft über sich selbst sehr bald verlieren und danach süchtig werden. Ich werde nie wieder ein Computerspiel anrühren. Das Leben hat zu viele schöne Seiten um sich darin zu verschwenden. Lieber leide ich an meinem Liebeskummer als nochmal durch die Hölle zu gehe
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20.03.2008 22:23:09 | ||
gabriele_farke | ||
Gruppe: Administrator Rang: Beiträge: 3415 Mitglied seit: 26.03.2006 IP-Adresse: gespeichert | barefoott, von ganzem Herzen: Dankeschön! Es ist so wichtig, dass Du uns Deine eindrucksvolle Geschichte hier schilderst! Ich wünschte, Du könntest das auch für die Medien so schildern (anonym). Die Gesellschaft kapiert es sonst einfach nicht! Dir wünsche ich, dass der Liebeskummer bald erträglich wird. Wer von uns wüsste nicht, wie arg das schmerzt? Gerade in solchen Situationen neigen viele Menschen tatsächlich dazu, sich selbst zerstören zu wollen, oft jahrelang ohne dies wirklich zu begreifen. Die einen beginnen übermäßig zu essen, die anderen werden bulemisch, wieder andere tauchen ab in Heroin-Träume, und wie wir sehen, spielen sich manche um ihre Existenz. Du wirst es schaffen! Du hast einen harten Denkprozess hinter Dir und hast am eigenen Leib erfahren, wohin Dich dieses Abtauchen geführt hat und noch geführt hätte. Unter der Brücke hättest Du uns Deine Geschichte nicht mehr erzählen können :-( Ich wünsche Dir einen positiven, erfolgreichen und glücklichen weiteren Lebensweg - ganz real! Alles Gute dafür, G.
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21.03.2008 07:25:59 | ||
barefoott | ||
Gruppe: Benutzer Rang: Beiträge: 2 Mitglied seit: 20.03.2008 IP-Adresse: gespeichert | Danke für das positive Feedback und die lieben Glückwünsche. Mir geht es mit jedem Tag besser. Gestern hatte ich die Installations-CDs mitsamt aller Bücher und Leitfäden zum Spiel entsorgt. Zu meiner Überraschung hatte ich dabei gar nichts gefühlt - es war nicht anders als ob ich einen Pizzakarton entsorgen würde. :) Der Frühling kündigt sich lautstark an und diesmal werde ich *dabei* sein. :) Ich wünsche allen die mit dieser Sucht kämpfen, dass sie es bald schaffen davon los zu kommen. Es gibt so viele Dinge die unendlich viel mehr Spaß machen. | |
25.03.2008 09:10:36 | ||
sopsy81 | ||
Gruppe: Benutzer Rang: Beiträge: 4 Mitglied seit: 15.06.2008 IP-Adresse: gespeichert | Hallo Zusammen! ich möchte mich kurz bei Euch vorstellen: ich bin 26 Jahre alt und studiere Medienwissenschaften. Bald werde ich mit meiner Masterarbeit anfangen und ich möchte gerne über die Internetsucht schreiben. Ich habe meinen Bachelor Abschluss in Philosophie und Sozialpsychologie gemacht(Abschlussnote: 1,6) und nun ist eben der Master-Abschluss dran! Ich möchte gerne in meine Arbeit Interviews einbetten, von Betroffenen, Angehörigen oder auch Personen, die den Ausstieg geschafft haben! Das wäre so toll, weil das Thema einfach ins Licht gerückt werden muss und ich möchte nicht nur mit Büchern arbeiten. Vieler meiner Kommilitonen oder Bekannten halten nichts von dem Thema und denken, dass Internetsucht gar nicht existiert oder übertrieben dargestellt wird. Und ich will zeigen, wie ernst das Thema ist!! Daher bitte ich Euch, bei Interesse natürlich, ein Interview zu geben, welches natürlich anonym behandelt werden würde. Es würden natürlich keine personenbezogenen Daten veröffentlicht werden. Habt ihr nicht Lust Eure Geschichten zu erzählen und das Problem Internetsucht ein wenig publik zu machen? Schreibt mir doch bitte an sopsy81@hotmail.de Ich wäre Euch sehr dankbar! | |
15.06.2008 19:38:48 | ||
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