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HANDELSBLATT, Montag, 24. Juli 2006, 15:17 Uhr Reportage Entgiftung für den Kopf Von Till Weingarten Computerspiele mögen noch so harmlos wirken, für viele können sie genauso wie Alkohol oder Glücksspiel zur Sucht werden. In Amsterdam hat nun die erste europäische Klinik für Computerspiel-Süchtige eröffnet. Dort kämpft ein Ex-Junkie gegen die Verlockungen der Cyberwelt. Eine Handelsblatt-Reportage.
AMSTERDAM. Tim hat es hinter sich, er hat es geschafft. Allerdings war es auch höchste Eisenbahn. „Ich spielte 17 Stunden am Tag. World of Warcraft, Ego-Shooter und Sportspiele“, erzählt der 21-Jährige aus Amsterdam. „Ich lebte in meinem Zimmer, nicht mal zum Pinkeln ging ich raus, sondern machte in eine Flasche.“ Er sitzt auf einem Sofa im Aufenthaltsraum. Seine Augenränder sind tiefschwarze Furchen, er ist stark übergewichtig.
„Ich hatte sechs Computer um mich herum, saß in der Mitte einer riesigen Kontrollstation aus X-Box 360, PlayStation 2, X-Box 1 und einem Game Cube, dazu ein Laptop und ein PC, an denen ich online mit anderen Gamern in der Welt von USA bis China spielte.“ Doch das alles ist jetzt vorbei. Tim ist einer der Ersten, die ein besonderes Entzugsprogramm durchgemacht haben. Das von Smith & Jones. In den Niederlanden hat das Unternehmen jetzt die erste Klinik in Europa für Computerspielsüchtige eröffnet.
Sie spielen, sie daddeln, sie hacken – bis zur totalen Erschöpfung. Nur noch diesen Rekord knacken. Unbedingt den nächsten Level erreichen. Nur spüren tun sie es nicht. Computerspieler, die süchtig sind – deren Welt nicht die ist, die uns umgibt. Nichts zum Anfassen, Schmecken oder Riechen, aber täuschend echt.
„Computerspiele sehen oft harmlos aus, sie können aber genauso süchtig machen wie Alkohol oder Glücksspiel“, sagt Keith Bakker (45), Direktor von Smith & Jones Addiction Consultants in Amsterdam. Mit seiner Klinik will er all jenen helfen, die ohne Joystick nicht mehr leben können, die den Weg aus der Cyberwelt, einer Parallelwelt, alleine nicht mehr zurückschaffen. Eine Welt, die im Trend liegt. Der Spielemarkt boomt. Laut einer Studie der DCF Intelligence, USA, werden bis 2011 etwa 13 Billion Dollar mit Computerspielen umgesetzt. 2006 rechnet DCF mit 114 Millionen Online-Spielern. Der Renner: World of Warcraft (WoW), ein Online-Rollenspiel, mit allein in Deutschland über sechs Millionen registrierten Benutzern.
Jeder kann WoW-Spieler werden, Talent für Tricks braucht man nicht. Dafür viel Zeit für die virtuelle Welt. Es gibt Postämter, Eisdielen, man bereist Kontinente, Geld muss verdient werden. Wirklichkeitsfremd müssen die Spieler aber auch Drachen töten und haben es mit plötzlich auftauchenden Fabelwesen zu tun.
Ein ganzes Heer von Programmierern entwickelt die Geschichte des Spiels täglich weiter. Es endet nie, man erwirbt ein Abonnement für zwölf Euro im Monat und spielt drauflos.
So wie Tim aus Amsterdam. Ein soziales Leben außerhalb der Spielwelt gab es für ihn schon bald nicht mehr. Seit seinem 12. Lebensjahr spielte er. „Wie viele Spieler habe ich mit einem simplen Nintendo angefangen.“
Später verlässt ihn seine Freundin, er bricht die Schule ab. Dass er im realen Leben versagte, war ihm nicht bewusst. „Mit 18 hatte ich keinen Kontakt mehr zu jemandem draußen. Höchstens, um mir Drogen zu besorgen, damit ich länger spielen konnte.“
Zwei Dinge haben ihn schließlich in die Klinik Smith & Jones gebracht: „Eines Morgens fuhr ich nach durchgemachter Nacht mit dem Auto zu meinem Dealer, ich fuhr so wie in einem Rennspiel, baute fast einen Unfall. Später sagten meine Eltern, entweder du lässt dich therapieren oder ziehst sofort aus. Bis dahin hatten sie es geduldet.“
In den Räumen der Klinik an einer der vielen Grachten in Amsterdam, herrscht Wohnzimmeratmosphäre. Ein altes Haus aus dem 16. Jahrhundert, der Parkettboden knarrt, die Treppen zu den Zimmern haben teilweise Puppenstubengröße.
Bei Smith & Jones gilt totales Daddelverbot. „Kontrollierten Konsum gibt es bei Spielsüchtigen nicht. Es gibt keine Ersatzdrogen, so wie bei Heroin etwa das Methadon. Die Entgiftung findet nur im Kopf statt“, sagt Programmleiter Dennis Old (50), aus Oklahoma, USA.
Seit über 20 Jahren ist Old Spezialist in der Forschung über Alkohol- und Drogensucht. „Es gibt nicht die Computerspielsuchttherapie. Wir sitzen mit unseren Patienten in der Runde. Gemeinsam mit der Gruppe wollen wir sie in die reale Welt zurückholen.“ Jeder muss seine persönliche Geschichte erzählen. Teambuilding gilt als entscheidend.
Spezialisten aus den USA, aus England und Dänemark hat Bakker im Team. Die Therapeuten leben mit im Haus, sind 24 Stunden ansprechbar für die Patienten. „Meist gibt es für Computerspielsüchtige nur übliche Sitzungen bei Psychologen, vielleicht eine oder zwei die Woche. Bei uns ist der Patient in einer Hand, alles ist unter einem Dach“, erklärt Old.
Bakker kommt zur Tür herein. In verwaschener Jeans, mit dabei sein Hund, eine Dogge mit nur einem Auge. Bakkers schulterlange, blonde Haare sind zersaust, fallen ins Gesicht. Sucht und Entzug sind sein Thema, er weiß, wovon er spricht. „Ich war jahrelang drogenabhängig. Kokain und Heroin gehörten zu meinem Leben.“
1996 war er auf der Straße, ein Junkie. Er war Rowdy bei Konzerten, er tourte mit ausländischen Rockstars. Im liberalen Holland, das die kontrollierte Drogenabgabe legalisiert hat, schaffte Bakker schließlich den Entzug. Wegen seiner Geschichte klopften später Musiker mit ähnlichen Problemen bei ihm an, ließen sich beraten. „Sie fragten mich, ob ich sie auf Tourneen begleiten, ihnen zur Seite stehen könnte, wenn es ihnen dreckig geht.“
Vor zwei Jahren dann kam ihm die Idee mit Smith & Jones. Erst nur eine Klinik für Alkohol- und Drogenabhängige, jetzt auch für Computerspielsüchtige. Startkapital: keines. „Ich fing mit einem Handy und einer Mitarbeiterin an. Aber ich hatte einen Namen in Holland.“
Entzugsprogramme dauern bis zu sechs Wochen und kosten die Patienten 500 Euro am Tag. „Wenn einer das Geld nicht aufbringen kann, finden wir eine Lösung.“ Krankenversicherungen übernehmen die Kosten für das Smith-&-Jones-Entzugsprogramm nicht. Bakker erklärt den Ansatz: „Es beginnt mit Fragen. Wer bist du in deiner Welt, was gibt dir das? Dazu reden wir über die Nicknames der Patienten.“
Tim, der 21-jährige Amsterdamer, war der „Master-Chief“. „Bei uns sollte er sechs Wochen später wieder Tim sein“, sagt Bakker. Geholfen haben ihm auch die Workshops und Touren in die Wildnis.
Wie exemplarisch ist Tims Fall? Wie oft kommt es vor, dass ein Leben aus den Fugen gerät und von der realen Welt in die virtuelle rutscht? Offenbar häufiger als gemeinhin angenommen.
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